Raum der Stille am Hamburger Hauptbahnhof

Der Raum der Stille von der Stadtmission befindet sich im Hamburger Hauptbahnhof, im Verbindungstunnel zwischen dem Eingang „Saturn“ und dem Hauptbahnhof auf der rechten Seiten. Auf den Raum selbst verweist neben einem Aufkleber auf der Eingangstür, ein Aufstellschild im Gang. Im Gewühle und bei den hektisch laufenden Bahnhofsbesuchern fällt es aber dennoch kaum auf. Ein paar Obdachlose sitzen rechts neben der Tür an der Wand. Die Tür mit durchsichtigen Glasfenstern führt zunächst in einen Vorraum, indem man an der Wand nur ein paar Prospekte findet. Zur Rechten befindet sich erneut eine Glastür, hinter dieser ein kleiner Schreibtisch, so wie ein Gästebuch, in dem sich jeder der möchte verewigen kann. Hinter dem Schreibtisch sitzt immer eine ehrenamtliche Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter. Der Raum hat nur geöffnet, wenn sich jemand bereit erklärt eine Schicht zu übernehmen.

Die beschriebenen Räume sind die Vorräume, der Raum der Stille befindet sich noch einmal hinter einer Schiebetür. Er ist circa 16 Quadratmeter groß, die Decken sind circa 2,30 m hoch. Decke und Wände sind schwarz gestrichen, der Boden ist anthrazitfarben. Zur rechten ein Gemälde, das in neun kleiner Quadrate unterteilt ist, das Gemälde ist in einem satten Gelb gehalten. Unter dem Bild befindet sich auf dem Boden eine Stahlschiene, in der sogenannter Schotter, liegt. Dieser Schotter wird auch für die Befühlung des Schienenzwischenraums genutzt. Dies wird mir von Frau Motz, einer ehrenamtlichen Helferin erläutert, die sich mit mir zum Interview getroffen hat. Durch den Schotter werde der Bezug zum Bahnhof deutlich, so die Rentnerin.

Gegenüber sind an der Wand drei Einbuchtungen, die mit Strahlern in Szenen gesetzt werden. In jeder Einbuchtung hängt ein Schriftrolle mit jeweils einem Haiku: „Erster Tag im Jahr nichts ist böse nichts ist gut sondern alles lebt“ „Der große Morgen Wind aus alter Zeit weht durch die Kiefer“ „Tiefe Stille rings – in das klare Wasser sinkt ein Kastanienblatt“. Alle Haikus beziehen sich auf die Natur uns sind nicht religiös. Man kann in ihnen das Thema Stille und Ausgegelichenheit finden. Eine genauere Interpretation wird dem Besucher überlassen. Schwierig wird es jedoch für internationale Besucher, da kein Haiku auf englisch verfasst ist.

Haiku ist eine traditionell japanische Gedichtform. Japanische Haiku bestehen meistens aus drei Wortgruppen von 5 – 7 – 5 Lauteinheiten in einer Spalte. Im Deutschten werden sie in drei Zeilen geschrieben. Haikus beziehen sich auf die Gegenwart und sind für ihre Konkretheit bekannt. Gefühle werden selten benannt und sollen sich dem Leser durch den Zusammenhang erschließen.1

Unter jedem Haiku, die extra in Auftrag gegeben wurden oder sogar von einer Helferin geschreiben wurden, befindet sich ein Holzbret. In dieses Holzbrett wurde ein Reagenzglas eingesetzt, daneben und im dem Reagenzglas sind Samen. Drei unterschiedliche Samen, in jeder Nische eine andere Sorte: Bohnen, Kürbis, Erbsen. Hier schaue ich mir einmal die Symbolik dieser Planzen an, so kann ich hieraus keinen Grund der Auswahl erkennnen. Die Bohne beudeutet unterirdische Furchtbarkeit, Erdgebundenheit und Auferstehung, diese Begriffe kann man noch positiv auslegen. Aber sie steht auch für Trägheit, Narrheit, Unbildung und Unreinheit.2 Der Kürbis steht für Fülle des Daseins, Überfluss und ihr Schutz, messianische Erwartung, Tod und Auferstehung, aber auch für Torheit, leere Hoffnung, Kürze des Lebens, Schwäche.3 Die Erbse steht für Glück und Wohlstand, Tod und neues Wachstum und Schöpfungskraft.4

Ulrich Hermannes beschrieb die Idee der Samen im Reagenzglas in einem Zeit-Artikel wie folgt: „Die Gedanken, die in diesem Raum entstehen, müssen ja nicht für immer hier bleiben – in der Stille.“5 Frau Matz erklärt mir im geführten Interview, dass jeder Besucher Samen in das Reagenzglas legen kann, diese werden dann ausgesät. Hierfür hat die Stadtmission eine kleine Grünfläche neben der Kunsthalle. Hermannes hierzu im Zeit-Artikel: „Die entstandenen Gefühle und Gedanken sind wieder frei und können wachsen.“6 Was mit der Saat geschieht steht nirgends im Raum. Positiv hierdran ist, dass der Nutzer nicht an die Interpretation der Raumgestalter gebunden ist und seine eigenen Ideen und Assoziationen mit den Samen verbinden kann. Vielleicht nimmt jemand die Samen für sich als Erinnerung mit, ein anderer ignoriert dieses Angebot vielleicht ganz. Raum für Interpretationen wird gegeben, jeder Besucher ist in seiner Handhabung frei. Da der Raum immer betreut wird, hat jeder Interessierte auch immer die Möglichkeite nachzufragen und so auch wenn es nirgends schrifltich erklärt ist, an dem Ritual teilzunehmen.

Auf den noch nicht beschriebenen Seiten hängen große Rahmen, die mit Filz bespannt sind. Diese lassen den Raum etwas weicher wirken. Fünf hölzerne Hocker stehen im Raum. Wer die erste Idee zu dem Raum hatte und eine genaue Begründung für die Platzierung konnte mir nicht gegeben werde. Ein Konzept liegt auch nicht vor. Zu Beginn, so Frau Motz, haben sich mehrere Mitarbeiter der Stadtmission Gedanken gemacht, was sie mit Stille verbinden. Der Raum sollte an einer ungewöhnlichen Stelle entstehen, so Frau Motz. Wobei der Bahnhof für einen Raum der Stille ein idealer Ort scheint und es hier gar nicht so ungewöhnlich ist. Viele Räume der Stille befinden sich an Orten mit einem hohen Besucheraufkommen, wie zum Beispiel der Andachtsraum auf dem Frankfurter Flughafen.7

Allerdings passen Räume auch besonders gut an Orte mit hoher Fluktuation. Flughäfen und Einkaufspassagen gleichen sich überall. Die Orientierung erfolgt nur noch durch Hinweisschilder. Gisela Groß behaupter, dass durch diesen Orienterungsverlust das Bedürfnis nach Vergewisserung der eigenen Identität und Beheimatung wächst.8 Die Nutzung durch knapp 3000 Beuschern im Jahr 2009 bestätigen, dass das Angebot genutzt wird.

Der Träger des Projekts ist die Stadtmission Hamburg. Gegründet wurde der „Verein für Innere Mission – Hamburger Stadtmission“ 1848. Johann Heinrich Wichern sah es als eine wichtige Aufgabe an, die Probleme der Großstadt, wie Armut, Kriminalität und Prostitution zu bekämpfen. Das Prinzip das wohlhabende Bürger den Verein unterstützen galt damals wie heute noch. Auf der Homepage der Stadtmission Hamburg wird weiter die enge Verbindung zur St. Jacobi Kirche und zu St. Georg-Borgfelde Gemeinde betont.9

Eine christlicher Hintergrund ist somit nicht von der Hand zu weisen. Doch obwohl der Träger die Stadtmission und somit christlich ist, habe man sich bewusst dafür entschieden kein Kreuz oder andere christliche Symbole zu verwenden. Es soll bewusst kein Ort der Mission sein, sondern ein Raum für jederman, der in der Hektik des Alltags ein wenig Ruhe, einen Rückzugsraum benötigt. Aufgrund dieser Aussage ordneten wir den Raum in die Kategorie Universale (nichtreligiöse) Räume der Stille ein. Diese Räume sollen der persönlichen Meditation und Sammlung dienen und machen dabei keine Anspielung auf irgendeine Religion. Ob dies wirklich der Fall ist, muss untersucht werden.

Der Raum kann auch religiös genutzt werden, so befinden sich in einem kleinen Regal im Vorraum Gebetsteppich, Bibel, bagad vita, Koran und ein Kompass zur Orientierung. Jeder Nutzer kann sich je nach Bedarf hier bedienen. Sabine Kraft verweist auf ein Problem bei Räumen wie diesem, bei dem das Nutzungskonzept nicht klar definiert sei. Der Anspruch einen Raum der Stille auch noch als offenen Ort für Gebet, Meditation und Entspannung zu nutzen überfrachtet so einen Raum. Da „die Stille Einkehr“10 zu jeder Zeit möglich sein sollte. Außnahmen seien dennoch zugelassen. Kraft weißt aber darauf hin, dass „eine stärkere Funktionsmischung […] das Konzept ‚Raum der Stille‘ überfordern“11 würde.12

Gibt es wirklich keine religiösen Symbole im Raum? Die Haikus in der Einbuchtungen sind alle bewusst neutral und beschreiben vorallem Naturbeobachtungen. Hier findet man keine religiösen Andeutungen.

Das Bild ist für den Betrachter ebenfalls neutral. Gemalt wurde es von Kerstin Kretzschmar. Enstanden ist das Bild auf der Grundlage des Bibelwortes: „So reißt er auch dich aus dem Rachen der Angst in einen weiten Raum, wo keine Bedrängnis mehr ist; und an deinem Tische, voll von allem Guten, wirst du Ruhe haben.“ ( Hiob 36, 16).

Hier ist somit, trotz der Behauptung, multireligiös ausgreichtet zu sein, eine religiöse Symbolik enthalten. Selbst wenn der Text nicht auf dem Bild steht, so ist er doch Ausgangspunkt ind Inspiration für das Bild. Die Behauptung, dass der Raum religiös neutral ist, kann somit, wenn auch nicht sofort sichtbar, nicht aufrecht gehalten werden. Andererseits wird ein Besucher, der nicht chrislich ist, das Bild eigenständig interpretieren.

Justin Kroesen hat in den Niederlanden Räume untersucht und weist darauf hin, dass die Verwendung moderner, abstrakter Kunst viel zu der meditativen Atmosphäre eines Raumes beitragen kann. Jedes Kunstwerk braucht aber genügend Raum um seine Wirkung zu entfalten. Ein Raum kann auch überfrachtet sein. Dies spricht für die Gestaltung des Raumes der Stille im Hauptbahnhof, auch wenn es ohne genaues Konzept geschah. Das leuchtende gelbe Bild strahlt ein Gefühl von Kraft, Wärme und Energie aus, die Seite gegenüber Ruhe.13 Man kann von einer komplentären Anordnung in diesem Raum sprechen. Die Hocker ermöglichen es, durch ihre Konstruktion ohne Lehne, sich in jede Richtung zu setzen. So kann man es sich aussuchen, ob man sich eher der ruhigen oder der energiegeladenen Seite zuwendet. So wird dem Besucher nicht vorgegeben in welche Richtung er schaut. Die ruhigere Seite wendet sich, ob nun bewusst oder unbewusst gewählt, vom Gang des Bahnhofs ab, was die Interpretation weiter stützt.

Die Öffnungszeiten sind leider sehr unregelmäßig, da der Raum nur geöffnet ist wenn ein ehrenamtlicher Helfer Zeit hat. Hierdurch können leider noch keine festen Öffnugszeiten garantiert werden. Wahrscheinlich ist es jedoch nicht möglich den Raum alleine offen stehen zu lassen, da er sicherlich sonst auch von einigen Besuchern zweckentfremdet werden würde. So erzählt mir Frau Matz, dass bereits jetzt viele Frauen Raum der Stille mit Stillräumen verwechseln und in den Raum mit der Absicht ihr Kind zu stillen kommen. Einen vorherigen Bezug zur Stille kann der Raum nicht aufweisen, so wurde es vermutlich von der Bahn als Umkleideraum für das Personal genutzt.

Die Verbindung Zum Bahnhof bleibt einem auch in der Stille immer präsent. Die Geräuschkulisse des Bahnhofs lässt sich nicht ganz ausblenden und so hört man das gedämpfte Rauschen der Straße über einem, das Kofferrollen und das Tick-Tack vieler Stöckelschuhe

Zu den Besuchern lässt sich sagen. Dass sie so multikulturell sind, wie auch die Besucher des Hauptbahnhofs selbst. Es gibt jedoch ein eine Reihe von festen Besuchern. Die „Hüterinnen“ des Raumes müssen auch immer wieder seelsorgische Arbeit leisten. Viele der Besucher sind bedürftig. Diejenigen Besucher, die über ihre Probleme reden möchten, werden offiziell verwiesen an Beratungs- und Seelsorgeeinrichtungen, wie das Kaffee St.Petri, Kirchenkaffee oder Bahnhofsmission. Aber jeder und jede Helferin des Raumes haben in dem abgestecktem Rahmen eine individuelle Handhabung.

Was hier jedoch auffällt ist, trotz der Betohnung der religiösen Offenheit, die seelsorgischen Angebote einen christliche Hintergrund haben. Passend zum Klientel wäre es eine breitere Aufstellung an Beratungsangeboten, die beispielsweise auch auf das muslimische Klientel ausgerichtet ist. Hier könnte man eventuell mit der Zentrums Moschee in der Böckmannstraße kooperieren.

Der Raum der Stille liegt an einem Ort, der Rastlosigkeit und Unruhe symbolisiert, dem Hauptbahnhof. Der Ort ist passend gewählt um den Menschen einen Moment der Ruhe und des In-sich-Kehrens zu ermöglichen. Trotz des Anspruchs nichtreligiös zu sein, lassen sich doch zwei Aspekte finden, an denen dieses Konzept nicht aufgeht, zum einen ist das Bild an der Wand auf einen biblischen Spruch zurück zu führen. Zum anderen ist das Beratungsangebot des Raumes chrsitlich, Menschen mit einem Bedürfnis nach Hilfe werden hauptsächlich an christliche Beratungsstellen verwiesen. Meistens ist der Raum ein Raum der Stille, zeitweise kann er jedoch auch zum religiösen Gebetsraum umfunktioniert werden. Dies macht der Besucher selbst, indem er religiöse Texte, Bücher, Gebetsteppiche oder andere Gegenstände mit in den Raum nimmt. In Kategorien gedacht erschwert dies natürlich eine Einordnung und der Raum ist nicht mehr nur religiös neutral. Dennoch finde ich diesen Aspekt wichtig, er macht deutlich, dass auch der Besucher die Entwicklung des Raumes beeinflusst und anscheinend haben diese, neben der Sehnsucht nach Ruhe, auch das Bedürfnis zu beten oder meditieren. Dies kannn man akzeptieren, solange es hauptsächlich ein Ort der Stille und somit auch ein mutlireliöser Ort bleibt.

 

2 vgl. Zerling, Clemens: Lexikon der Pflanzensymbolik, Baden/München, 2007, S. 41 f.

3 vgl. ebd. S. 147 f.

4 vgl. ebd. S. 69 f.

7Meister, Ralf: Grenzenlose Offenheit, in: Meister, Ralf (Hg.), Kunst und Kirche 2/2000, S. 106-107.

8Groß, Gisela: Multireligiöse Räume, in: Meister, Ralf (Hg.), Kunst und Kirche 2/2000, S. 66.

10Kraft, Sabine: Können interreligiöse Räume funktionieren? Eine Typologie und: Das „Haus der Stille“ (Campus Westend, Frankfurt), in: Erle, Prof. Dr. Thomas/ Leisch-Kiesl, Prof. Dr. Monika (Hg.), Kunst und Kirche, 02/2010, S. 33.

11Kraft, Sabine: Können interreligiöse Räume funktionieren? Eine Typologie und: Das „Haus der Stille“ (Campus Westend, Frankfurt), S. 33.

12Kraft, Sabine: Können interreligiöse Räume funktionieren? Eine Typologie und: Das „Haus der Stille“ (Campus Westend, Frankfurt), S. 33.

13Gisela Groß: Multireligiöse Räume, S. 68.

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